Donnerstag, 17. Oktober 2019
Der andere Blick

Vor einigen Jahren war ich länger in der Psychiatrie. Der Platz des geballten Schmerzes, das
sichtbare Leid des Menschen, Nackt vor sich selbst und vor der Welt. Die Gestrandeten, die Missbrauchten,
die sich nicht durchsetzen können, werden von der Welt zerrieben. Die Erschrockenen, wie gnadenlos
Menschen sein können, innere Fassungs-losigkeit, sprachlos geworden, ob der Gewalttätigkeit in dem
Leben. Die völlig Verwirrten, weil der innere Klang, mit dem äußeren Klang, nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Die wilden Seelen, die sich nicht von der Gesellschaft beschneiden lassen wollen, die einfach
nicht in das Gesamtbild passen. Die, die unter dem äußerem Druck explodieren, und einfach nicht mehr
leben wollen.

Und es gab Simone, als sie eingeliefert wurde, schreiend wie ein verletztes Tier und fixiert. Sie hat die
ganze Nacht geschrien, dass waren wortlose Schmerzensschreie, mir ging das durch Mark und Bein,
so etwas hatte ich noch nie zuvor gehört, ich war zwischen entsetzen und tiefem Mitgefühl gefangen.
Die ganze Nacht.

Am Morgen war es dann still. Die Wirkung der Medikamente hat eingesetzt. Sie sass völlig Geistes
Abwesend, auf dem Stuhl, vor dem Frühstückstisch, vollkommen leere Augen ins Nirgendwo. Sie
musste gefüttert werden, weil sie sonst nichts gegessen hätte.

Als die Nacht kam, schrie Simone wieder, und ich dem Gefühl nahe, dass halte ich nicht nochmal aus.
Dann bin ich zum Pfleger, der redete dann ganz lang mit mir. Er erzählte mir die Lebensgeschichte
von Simone, schon als klein Kind missbraucht, und oft bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen wurde.
Zerbrochen worden, auf Lebenszeit, unfähig allein zu leben. Der Pfleger meinte, sie wäre jetzt wieder
auf Medikamente eingestellt, und das es ihr bald "besser" geht. Ohne die Medikamente meinte er,
erlebt sie den Schmerz, Nacht für Nacht, immer wieder.

Es ging ihr von Tag zu Tag besser, sie verwandelte sich zu einer ganz anderen Frau, vorher war
sie gar nicht definierbar, nur ungezügelter Schmerz. Sie erstrahlte förmlich und hatte leuchtende
Kinderaugen, auch so eine krasse Wandlung hatte ich noch nie vorher erlebt. Die Patienten hielten
sich alle in ihrer Nähe auf, sie war immer umringt, sie strahlte etwas regelrecht reines aus, Freude.
Sie hatte eine Aura um sich, für mich, wie eine Madonna. Die anderen haben es auch gespürt,
und keiner hat die Schreie vergessen, und jeder war erleichtert, dass es besser ging.
Jeder hat gesehen, dass Simone eine schöne Seele ist, hinter all dem Schmerz.

Eine Kommunikation im herkömmliche Sinne war nicht möglich, sie war so fern, als würde sie
das Hier alles staunend betrachten, aber nicht zu sich zugehörig fühlen, als sei sie vom Himmel
gefallen, und war einfach da, sie sagte zb. "siehst du wie schön Bäume sind", dabei strahlte sie vor
lauter Liebe, wie ein Kind.

An einem Abend haben wir Frauen, eine Modenschau gemacht, eine Patientin kam aus Afghanistan
und hatte ihre ganze Aussteuer in einer Truhe mit in die Psychiatrie gebracht. Auch eine sehr
traurige Lebensgeschichte.

Uralte traditionelle Afghanische Kleider, dass Afghanische Mädchen und ich hüllten uns in die Gewänder
und legten den dazu gehörigen Schmuck an, eines dieser Kleider war schon 90 Jahre alt, vom
Generationen an die Braut übergeben, aus der alten Zeit.

Wir Frauen, wir waren so 7-8 Frauen hatten viel Freude dabei, sie erklärte die Bedeutung der Kleider. Draußen dämmerte es, wir zündeten Kerzen an, es war eine seltsam friedliche Stimmung, Simone in der
Mitte hatte auch ihre Freude daran. Dann sagte sie, mit ihren leuchtenden Augen, "alles ist Liebe wir
alle sind Sonnenblumen". Keiner an diesem Abend, dachte mehr an sein Leid, wie raus gehoben
waren wir, wieder Kinder, die Freude an ihrem Spiel haben, selbst vergessend zueinander
gewand in Liebe und Freude und Mitgefühl für einander. Weil jeder der anwesenden Frauen,
den tiefsten Schmerz erlebt haben, den Abgrund. Da, auch wenn nur für ein paar Stunden rauszukommen
wird mit dankbarer Freude angenommen.

Für mich war dieser Abend ein Blick weit weit zurück, aus einer fernen Zeit, als ich mich im Spiegel
in diesem Kleid sah, im Kerzenschein, ein damit verbundenes Gefühl, es war nicht fremd, dass
kannte ich dieses Bild, ich dachte Jetzt zu dieser Zeit ist es schöner.

Als es Simone besser ging, hat sie die Station verwandelt, wir waren alle, wesentlich entspannter,
höflicher miteinander, ehrliche tiefe Gespräche. Viele haben Simones Schreie, als ihre eigenen nicht
raus gelassene Schreie erkannt. Und nach ihrer Wandlung, sich selbst als Kind wieder gesehen,
in seiner ursprünglichen Reinheit und Naivität.

Und was ist aus dem Ursprünglichen,dass in der Lebensmitte übrig bleibt, Schreie, unendlicher Schmerz,
Lebensmüde, Verwirrt und gespalten. Und in all dem, trotzalledem, waren ein paar Stunden davon,
der Zeit und dem Schmerz entrissen, zurückversetzt als die Welt noch heil und ganz war, und
die Welt ein Zauberland und reine Freude der Antrieb war.

Selbst an den dunkelsten Orten, voller Verzweiflung, erstrahlt ein Licht, was das wunde Herz
tröstet. Danke Simone, wo du auch immer bist, durch dich habe ich erkannt, dass mein Leid
nicht das größte auf Erden ist, und mir tatsächlich so viele Möglichkeiten offen stehen, wo
ich vorher kein Land mehr gesehen hab.

(Simone war nicht ihr richtiger Name)

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